Der Sinn hinter der vorschulischen Sprachförderung: Kindergärtler müssen verhältnismässig gut Deutsch können, sonst können sie dem Unterricht nicht folgen. Adobestock
13.09.2023 23:45
Wer gezwungen wird, muss nicht zahlen
Das Bundesgericht pfeift den Thurgau zurück – dieser wollte Eltern von sprachschwachen Kindern ans Portemonnaie
Ab 2024 ändert sich einiges im Thurgau: Kinder, die eineinhalb Jahre vor Kindergarteneintritt noch nicht genügen Deutsch können, müssen Förderangebote besuchen. Das Schulgesetz sah vor, Betroffene wenn nötig dafür zahlen zu lassen. Doch das wäre verfassungswidrig, entschied das Bundesgericht.
Thurgau Sprache spielt eine wichtige Rolle bei der Integration und beim Erfolg in der Schule oder später im Beruf. Leider können heute viele Kinder, die in den Kindergarten kommen, nicht genügend Deutsch. Darum wird vorschulische Sprachförderung immer wichtiger. 2024 wird diese im Thurgau sogar selektiv obligatorisch. In der Praxis soll das über die sogenannte «Sprachstandserhebung» funktionieren. Mittels Fragebögen müssen die Thurgauer Schulgemeinden rund 3000 Kinder prüfen, die bis im Sommer ihren 3. Geburtstag feiern (also 18 Monate vor dem Kindergarteneintritt). Unter anderem werden die Schulgemeinden die Eltern fragen, was die Muttersprache der Kinder sei, ob daheim «ausschliesslich» oder bloss «teils-teils» Deutsch oder Schweizerdeutsch gesprochen werde oder ob die Kinder Fragen wie «Was ist dein Lieblingsessen?» verstehen. Sollten sich mangelnde Deutschkenntnisse der künftigen Kindergärtler ergeben, können die Schulgemeinden die Eltern per Entscheid verpflichten, ihr Kind in ein Angebot für Sprachförderung zu schicken, etwa in eine Kita, eine Spielgruppe, eine Tagesfamilie oder in ein schuleigenes Angebot. Für die Erhebung sollen die politischen Gemeinden den Schulgemeinden die Adressen zur Verfügung stellen. Die Kinder besuchen die Angebote während eines Jahres, zwischen vier und sechs Stunden pro Woche. Wer nicht an der Sprachstandserhebung teilnimmt, also die Fragebögen nicht zurückschickt, riskiert eine Busse.
Gegen die Verfassung
Das Thurgauer Volksschulgesetz sah vor, dass die Erziehungsberechtigten für diesen Aufwand einkommensabhängig und mit maximal 800 Franken pro Jahr belangt werden können. Zudem hätten die Eltern auch allfällige Kosten für den Weg der Kinder zu einem Förderangebot übernehmen sollen. Das Bundesgericht hat nun entsprechende Paragrafen gelöscht. Es begründete seinen Entscheid damit, dass Elternbeiträge bei obligatorisch ausgestalteten vorschulischen Massnahmen «unvereinbar mit dem verfassungsmässigen Grundrecht des unentgeltlichen Grundschulunterrichts» seien.
Debatte im Grossen Rat
Bereits bei der Lesung des Volksschulgesetzes im Grossen Rat im November 2021 gab es kritische Stimmen gegen das Vorhaben. «Kinder werden zum Deutschlernen verpflichtet, und die Eltern können dafür zur Kasse gebeten werden. Das verstehe ich nicht», sagte Ueli Keller, GP, damals. Einen Antrag des Kantonsrats aus Bischofszell auf Streichung der Elternbeiträge lehnte der Grosse Rat jedoch grossmehrheitlich ab. Auch die Kreuzlinger SP-Kantonsrätin Elina Müller argumentierte, dass ein im Gesetz verankertes Obligatorium, welches explizit als Vorbereitung für die Kindergarten- und Schulzeit verstanden wird, natürlich unter das Grundrecht auf eine unentgeltliche Grundschulbildung fällt. Eine andere Meinung vertrat der Frauenfelder Schulpräsident und SVP-Kantonsrat Andreas Wirth. «Es wäre meines Erachtens nicht rechtens, wenn jene, die ihren elterlichen Pflichten nachkommen und ihre Kinder freiwillig in die Spielgruppe schicken, dies aus dem eigenen Sack bezahlen müssten, während für Kinder, deren Eltern ihre Aufgabe nicht wahrgenommen haben, der Staat die Ausgaben übernehmen soll», sagte Wirth.
Zweite Klage gegen Kanton
Den Bundesgerichtsentscheid herbeigeführt haben Beschwerdeführer um den Kreuzlinger Pädagogen und Juristen Valentin Huber. Diese klagten gegen den Kanton – bereits zum zweiten Mal. Schon im Jahre 2017 planten die Behörden, bereits eingeschulte Kinder bei ungenügenden Deutschkenntnissen zu zusätzlichen Sprachkursen zu verpflichten. Und vor allem: die Eltern dieser Kinder dafür zur Kasse zu bitten. Auch damals pfiff das Bundesgericht den Kanton Thurgau zurück.
Von Stefan Böker